Die Magie der Module
Modularisierung 4.0 für Produkte, Services und die gesamte Organisation
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Kundenorientierung und Individualisierung werden weiterhin die wichtigsten Leitlinien für neues Wachstum in vielen Branchen sein. Unternehmen kommen nicht umhin, eine immer stärkere Vielfalt in Produkten, Services und Geschäftsmodellen zu antizipieren. Diejenigen, denen es gelingt, die entstehende Komplexität smarter zu managen, haben auf lange Sicht einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Denn wer Varianten kosteneffizienter und schneller erzeugen kann als der Wettbewerber, der entscheidet das Rennen am Ende für sich, und dessen Profitabilität wird auch nicht durch die eigenen Komplexitätskosten in Gefahr gebracht. Wer modularisiert, kann individuelle Wertversprechen schneller und gleichzeitig kosteneffizienter abliefern und Varianten ohne Mehrkosten erzeugen.
Die zunehmende Globalisierung der Beschaffungs- und Absatzmärkte führt zu einer Allverfügbarkeit vieler Produkte und Serviceleistungen und somit zu einem steigenden Differenzierungsdruck. Durch die rasante Entwicklungsgeschwindigkeit vieler Anbieter aus Niedrigpreisländern wird das klassische Produktgeschäft vieler etablierter Qualitätsanbieter unter einen wachsenden Preisdruck gesetzt. Die Produktqualität erfährt hierbei eine Abwandlung vom Begeisterungs- zum Hygienefaktor. Der Rückgang des Wertbeitrags im klassischen Produktgeschäft führt dazu, dass produktbegleitende Dienstleistungen und das Servicegeschäft an Bedeutung gewinnen. Dies erfordert eine stärkere Einbindung des Kunden in den Leistungserstellungsprozess. Vor diesem Hintergrund wurde vor allem die Produktprogrammgestaltung für viele Unternehmen zu einem zentralen Erfolgsfaktor. Oft werden Variantenentscheidungen auf Basis von qualitativen Schätzungen getroffen und Kundenwünsche direkt als neue Produktvarianten umgesetzt, ohne die dadurch entstehende Komplexität kritisch zu prüfen.
Varianten-Eskalation in der Industrie
Unternehmen werden auch in Zukunft eher mehr Komplexität durch Vielfalt zu bewältigen haben als weniger. Ohne intelligentes Variantenmanagement drohen Unternehmen in den Kosten der selbst erzeugten Vielfalt zu ertrinken. Unternehmen können die Komplexität nur begrenzt verhindern, aber sie können sie mit den richtigen Methoden besser managen!
Die Automobilindustrie steht für eine Variantenexplosion wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig. Aber die OEM haben dieser Entwicklung nicht untätig zugesehen, sondern neue Managementsysteme für die entstehende Komplexität entwickelt. Der Volkswagen-Konzern gehört zu den Vorreitern der Modularisierung. Der von VW eingeführte modulare Querbaukasten harmonisiert die Fahrzeugproduktion von über 40 Modellen von VW, Audi, Skoda und Seat. Neben diesem System von VW hat die Entwicklungsabteilung von Audi den modularen Längsbaukasten für längseingebaute Motoren entwickelt. Parallel dazu trieb VW die Modularisierung der Produktion voran. So hat VW es geschafft, eine steigende Anzahl von Anläufen pro Jahr effizient und aufwandsarm zu realisieren.

Die Elektronikindustrie stand bereits vor Jahren vor ähnlichen Herausforderungen. Hersteller kämpften schon immer damit, die eigenen Produkte nicht nur für unterschiedliche Anwendungsbereiche, sondern auch in unterschiedlichsten Ländern absetzen zu müssen. Das Problem: Jedes Land unterliegt anderen Prüf- und Normbedingungen, was die Variantenanzahl auch für gleiche Anwendungsfälle in die Höhe treibt. Für das Produktspektrum an haushaltsüblichen LED-Glühbirnen führt dies zu vielen tausend technischen Varianten. Mit einem Modulsystem lassen sich Materialnummern im zweistelligen Prozentbereich reduzieren – eben weil es Teilmengen gibt, die für alle Produkte gleich sein können. Die individuellen Kundenbedürfnisse bereiten den Managern aber auch außerhalb der Industrie Kopfzerbrechen. Für Wirtschaftsprüfungsunternehmen etwa steigt die Komplexität im Service-Management seit Jahren überproportional, da die Prüfungsleistungen spezifisch für verschiedene Branchen und Marktsegmente ausgelegt werden müssen. Auch muss der Varianz der Klienten hinsichtlich Finanzkennzahlen und Rechtsformen Rechnung getragen werden. Es zeigt sich, dass für die Entwicklung von differenzierten Leistungsprogrammen mit einer großen Anzahl von Varianten und Anpassungen modulare Servicearchitekturen ein großes Potenzial bieten. Ein weiteres Anwendungsfeld stellen die Dienstleistungsportfolios bei Standortbetreibergesellschaften von Industrie- und Chemieparks dar. Diese sehen sich, bedingt durch die heterogenen Anforderungen ihres Kundenstamms und starke Konkurrenz externer Dienstleister, mit der Herausforderung konfrontiert, ihren Kunden ein individuelles und kostengünstiges Leistungsangebot zu unterbreiten. Als Lösung hat sich ein modulares Serviceportfolio bewährt. Unternehmen können neben Leistungen, die verpflichtend abzunehmen sind, aus einem breiten Programm an voneinander unabhängigen Services wählen und sich somit ein auf ihre Anforderungen zugeschnittenes Dienstleistungspaket zusammenstellen.
Effizient, flexibel und kosteneffektiv: Modularisierung 4.0
Modularisierung ist eine Antwort auf die gestiegene Komplexität in Unternehmen, denn durch Modularisierung bleibt Individualisierung kosteneffizient. Eine Variantenreduzierung ist nicht immer möglich, aber das ist auch nicht nötig, denn Modularisierung bedeutet: Nicht jede externe Kundenvariante muss eine interne Variante sein. Die Gesamtheit aller Varianten eines Produkt- und Dienstleistungsportfolios wird in die kleinsten Elemente zerlegt. Aus diesen Elementen werden dann Module gebildet, natürlich mit dem Ziel, gewisse technische Ausprägungen zu streichen. Im internen Variantenmanagement müssen dazu Kompromisse eingegangen werden, etwa Überdimensionierungen für Baugruppen, anstatt alle Leistungsklassen für alle Varianten vorzuhalten. Beispiele für erfolgreiche Modularisierungskonzepte finden sich in allen Branchen.

Zunächst wird die Vielfalt im produzierenden Wettbewerb modularisiert. Aufgrund des steigenden Wettbewerbs im Dienstleistungssektor und dem großen Erfolg der Produktmodularisierung werden Dienstleistungen als Servicebündel zusammengefasst. Da die reine Modularisierung von Produkten und Services im heutigen Wettbewerb nicht mehr ausreichend ist, haben viele produzierende Unternehmen begonnen, die Produktion zu modularisieren, um geringere Investitions- und Betriebskosten der Fertigungsstätten zu erhalten. Bei der Modularisierung werden weltweit Best-Practice-Module für die Organisation, die Prozesse und die Ressourcen im Produktionssystem ermittelt, die in der modularen Produktionsstruktur hinterlegt werden. Auf diese Weise lassen sich Planungskosten senken, Skaleneffekte beim Kauf der Module realisieren, Betriebskosten im globalen Unternehmensnetzwerk einsparen sowie die Flexibilität erhöhen. Im Zuge der Modularisierung im Produktionsumfeld kommt es darauf an, das Produktionssystem neu zu definieren und Produktionsumfänge zusammenzufassen. Auf diese Weise kann eine hohe Wiederverwendbarkeit im Bearbeitungssystem erreicht und eine flexible, produktübergreifende Nutzung der Anlagen gewährleistet werden.
Die 5 wichtigsten Fakten
- Produktbegleitende Dienstleistungen und das Servicegeschäft werden wichtiger, da klassische Produkte an Wert verlieren.
- Modularisierung ist eine Antwort auf die gestiegene Komplexität, denn durch Modularisierung bleibt Individualisierung kosteneffizient.
- Standards sparen Zeit und Geld, minimieren Fehler und steigern die Effizienz.
- Die Modularisierung führt zu mehr Produktivität und schlanken Abwicklungsprozessen in der ganzen Organisation.
- Schwierigkeiten bei der Modularisierung entstehen meistens bei der Überführung des Modells in die Praxis.
Wie Unternehmen von Modularisierung profitieren
Die Modularisierungstheorie ist eingängig. Die Schwierigkeiten treten auf, wenn Manager die Aussagen und Empfehlungen im praktischen Einzelfall nutzen möchten. Der Werthebel der Modularisierung ist hoch. In über 32 Praxisprojekten in unterschiedlichen Branchen haben wir gelernt, dass die positiven Effekte der Modularisierung in allen Bereichen der Wertschöpfungskette wirken können.
Wer modularisiert, reduziert die Anzahl der lebenden Teilenummern – stellenweise um bis zu 50 %. Die Herstellkosten sinken dadurch ebenso wie Planungskosten, da das Rad nicht für jeden Kunden immer wieder neu erfunden werden muss. Das funktioniert nicht nur in der Großserie, sondern auch im Anlagenbau und im Projektgeschäft. Wenn ich auf vorgedachten Standards aufbaue, kann ich den Kunden schneller bedienen und spare Zeit und Geld. Insgesamt führt die Modularisierung zu mehr Produktivität und schlanken Abwicklungsprozessen in der ganzen Organisation. Der Mehrwert des Ansatzes setzt sich aus fünf großen Werthebeln zusammen:
- Prozesskostenreduzierung durch weniger interne Komplexität
- Produktionskostenreduzierung durch vormontierte Module oder geringere Rüstkosten
- Volumenvorteile im Einkauf oder der Produktion
- Reduktion von Planungskosten in Kundenprojekten, da auf vorgedachten Standards aufgebaut werden kann
- Bestandsreduktion durch weniger Varianten
Darüber hinaus wirkt sich eine reduzierte Anzahl interner Varianten positiv auf die Investitionskosten aus, wenn Maschineninvestitionen etwa auf eine höhere Stückzahl umgelegt werden können. Auch kann die Produktivität steigen, wenn zum Beispiel modulare Produktionsanlagen schneller und fehlerfreier hochlaufen, weil das System an einem anderen Standort schon mal erprobt wurde. Die Kammlinie kann so bei Neuanläufen schneller erreicht werden.
Lektionen für eine erfolgreiche Umsetzung
Aus den uns bekannten 32 Fallstudien lassen sich Lektionen für eine erfolgreiche Einführung der Modularisierung ableiten:
#Lektion 1: Modularchitekturen werden in crossfunktionalen Teams und nicht allein durch die Entwicklungsabteilungen festgelegt:
Die Potenziale wirken an vielen Stellen. Für den Einkauf ergeben sich etwa Volumenvorteile in den Verhandlungen, wenn ganze Module an ein paar wenige Lieferanten statt einzelner Komponenten an viele Lieferanten vergeben werden. In der Entwicklungsabteilung reduziert sich der Aufwand, wenn sich physische Produkte in klar abgrenzbare Ingenieursdisziplinen trennen lassen. Für Fertigung und Montage geht es um Lagerkosten und die einfache Montierbarkeit nach dem Legoprinzip. Für den Service-Mitarbeiter stehen schnelle Zerlegbarkeit und Zugänglichkeit an den neuralgischen Punkten an erster Stelle. Der Vertrieb nimmt am ehesten die Kundensicht ein: Leistungsklasse 1 und Leistungsklasse 2 sollten dann jeweils ein Modul bilden und als Standard festgeschrieben werden. Modularchitekturen müssen im crossfunktionalen Team entwickelt werden.
#Lektion 2: Eine fundierte Wirtschaftlichkeitsbewertung ist der Schlüssel zum Erfolg:
Ein erfolgreiches Projekt kann nur durchgeführt werden, wenn die betriebswirtschaftliche Bewertung der Potenziale von Anfang an im Projekt verankert ist. Denn Produkte, Services, die Organisation oder die Produktion modular zu gestalten, ist zunächst mal mit einem Mehraufwand verbunden und dieser muss gerechtfertigt werden. Welche Baukastenarchitektur unterm Strich die Richtige für das Unternehmen ist, kann nur durch eine systematische Total-Cost-Bewertung ermittelt werden. Vor- und Nachteile verschiedener Modulszenarien müssen gegeneinander abgewogen werden.
#Lektion 3: Modularisierung muss immer aus Kundenperspektive gedacht werden:
Die höchste Kunst der Modularisierung ist die Definition der Module und Schnittstellen. Die Maxime muss lauten: Modularisierung geschieht immer aus Kundenperspektive, also auch Ausstattungspakete oder Servicebündel prägen die Wahl der Modulschnittstellen. Viele Unternehmen orientieren sich dabei an den technischen Komponenten oder Funktionen. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit, denn ob einzelne technische Komponenten oder Baugruppen in realisierten Produkten offensichtliche, technische Schnittstellen aufweisen, ist relevant, aber nicht allein ausschlaggebend für ein Modulkonzept.

#Lektion 4: Modularisierung wird als iterativer Prozess verstanden:
Modularisierung bedeutet: Szenarien erarbeiten und bewerten, neue Ideen entwickeln und auch wieder verwerfen. Verschiedene Perspektiven gegeneinander abzuwägen, heißt iterativ vorzugehen, weil man sich von verschiedenen Seiten der Lösung – dem für das Unternehmen besten Modulkompromiss – nähern muss. Modularisierung ist ein kreativer Prozess, der von der die Diskussion und Rückkopplungen lebt, und schlussendlich ist es ein kreativer Prozess, der nicht ohne geistige Gedankenexperimente auskommt.
#Lektion 5: Modularisierung mit Cost Engineering verbinden:
Wer modularisieren will, zerlegt Gesamtsysteme und clustert danach Ähnliches. Ein Phänomen tritt dabei in Projekten sehr häufig auf: Es entstehen in diesem kreativen Prozess sehr häufig Ideen zur Produktverbesserung und zur Produktkostensenkung. Diese Design-Ideen führen dann dazu, dass sich das Produkt als Ganzes verändert, was wiederum die Rahmenbedingungen für die Modularchitektur beeinflusst. Unsere Empfehlung ist daher, in den Modularisierungsprojekten einen Value Engineering Workstream vorzusehen. Denn in den seltensten Fällen modularisiert man ein perfektes Produkt, für welches im Laufe des Projekts keine Optimierungsideen mehr entstehen.
#Lektion 6: Modularisierung bedeutet Change-Management:
Modularisierung ist nicht nur ein Ordnungssystem. Ein aktives Change-Management und ein neuer Prozess sind in vielen Fällen die logische Konsequenz, denn die Veränderung findet nicht nur in den Entwicklungsabteilungen statt. Ohne ein Managementkonzept, das alle Betroffenen im Unternehmen berücksichtigt, entsteht das Risiko, dass die Modularisierung zum Ideenpapier wird, das in der Organisation nicht gelebt wird. Module werden nicht für die Ewigkeit ausgelegt, sondern müssen regelmäßig im Rahmen von neuen Innovationen überprüft oder auch erweitert werden.
Die richtige Struktur macht den Unterschied
Aus langjährigen Industrieprojekten in allen Branchen haben wir gelernt. Vier wichtige Arbeitspakete haben sich für einen erfolgreichen End-2-End-Ansatz bewährt.
Baukastenarchitektur & Modulkataloge:
Der Projektabschnitt umfasst die Definition der technischen Modulgrenzen, die Entwicklung der Baukastenstruktur, die Erarbeitung der Baukastenkombinatorik und die Spezifikation der Module auf der technischen Ebene. Die Austauschbarkeit der Module, der Standardisierungsgrad der Schnittstellen, die relative Autonomie, die Kompatibilität durch die Kombination und das Standardisierungspotenzial sind zu berücksichtigen. Modulkataloge erlauben die Dokumentation der neu festgelegten Design-Architektur sowie eine grobe Bauanleitung anhand von Kundenanforderungen.
Wirtschaftlichkeitsbewertungen & Szenarioanalysen:
Das Soll-Konzept ist kein Zufall, sondern muss auf systematische Wirtschaftlichkeitsbewertungen und Szenarioanalysen bauen, die zusammen mit den Fachbereichsexperten im Unternehmen durchgeführt werden. Dies geschieht auf Basis von Modulszenarien, die auf Baugruppen- oder Maschinenebene definiert werden und eine klare Argumentenbilanz aufweisen. Diese Szenarien müssen dann hinsichtlich des Wertbeitrags bewertet werden.
Prozesse & Organisation:
Das Modulsystem ist ein Bindeglied zwischen verschiedenen Unternehmensfunktionen. Dieses Konzept muss in die bestehenden Prozesse und die Organisation im Unternehmen eingebunden werden. Der Modulmanagementprozess umfasst dabei die Prozesse zur Nutzung, zur regelmäßigen Überprüfung und zur Rekonfiguration des Modulsystems. Modulverantwortliche erfüllen hier etwa eine zentrale Koordinationsfunktion. In diesem Arbeitspaket werden klare Rollen und Verantwortlichkeiten über den gesamten Lebenszyklus des Modulsystems erarbeitet.
Konfigurator und IT-Plattform:
Da der Kunde immer einen besonderen Stellenwert hat, muss ein Modularisierungsprojekt auch immer der Vermarktung der modularen Produkte gewidmet sein. Ziel muss es sein, den Kunden über einfache Fragestellungen und Applikationsfelder schnell und komfortabel durch den Variantenbaum zu navigieren, sodass er schnell und ohne sich durch viele Optionen klicken zu müssen, an der geeigneten Wunschkonfiguration ankommt. Der Kunde gibt durch die Benutzung viel über das eigene Präferenzprofil preis – und dieses Wissen lässt sich nutzen. Der Konfigurator als analytisches Instrument liefert wertvolle Erkenntnisse für das Marketing und das Produktmanagement.