Folge 11: Wer passt sich an, der Prozess oder das System?
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Univ.-Prof. Dr.-Ing. habil. Norbert Gronau ist Inhaber des Lehrstuhls für Prozesse und Systeme an der Universität Potsdam. Er ist häufiger Key- note Speaker und Gründer der auf Trusted Advisory spezialisierten Potsdam Consulting Advisory GmbH. Zu seinen Kunden zählen Familienunternehmen wie Bahlsen und die Meyer Werft, Konzerne wie Universal Music, Daimler und Lufthansa Technik sowie öffentliche Einrichtungen wie die Landeshauptstadt München und das Land Niedersachsen. Er hat Bücher zu Geschäftsprozessmanagement, ERP und Wissensmanagement verfasst und ist Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften ACATECH. E-Mail advisor@potsdam-consulting.de
Viele Projekte der ERP-Auswahl werden anfänglich getrieben durch den Wunsch der Auftraggeber, „möglichst im Standard zu bleiben“. Zu Beginn eines Projektes fürchten Entscheider nichts mehr als Anpassungen an Softwarelösungen.
Nach meiner Erfahrung aus einer Vielzahl von Einführungsprojekten, die ich als Trusted Advisor begleitet habe, erlischt dieser Elan sehr schnell im Verlauf des Projektes. Plötzlich müssen alle liebgewonnenen Abläufe unbedingt in die Funktionalität der neuen Software überführt werden – koste es was es wolle.
Beide Extrempositionen halte ich für grundfalsch. Weder ist es sinnvoll auf Anpassungen grundsätzlich zu verzichten noch zahlt es sich aus, das Standardsoftwaresystem praktisch nur als Entwicklungsplattform zu nutzen. Wenn man am Standard festhält, bestehen keine Probleme, jeweils auf die neueste angebotene Version der eingesetzten Software umzusteigen. Angesichts der Vielfalt neuer Funktionen, die jedes Major Release mitbringt, ist das ein klarer Vorteil. Bei starker Anpassung und damit hohen Aufwänden für das „Hochziehen“ der Software besteht die Gefahr, dass auf aktuelle Technologien und Funktionen verzichtet werden muss. Häufig wird nur deshalb auf ein Upgrade auf eine aktuelle Version verzichtet, weil der Anpassungsaufwand zu hoch ist.
Auf der anderen Seite gibt es wettgewerblich relevante Anforderungen, die zwingend umgesetzt werden müssen. Der Einsatz eines neuen Systems darf niemals zu einer Verringerung der Wettbewerbsfähigkeit führen, so dass Leistungen nicht mehr angeboten oder Services nicht mehr differenziert werden können.
Es verbleibt ein Graubereich, in dem die Entscheidung in beide Richtungen fallen könnte. Jede dieser Entscheidungen muss sorgfältig abgewogen werden. Auch die Durchsetzung von Prozessänderungen kann mühsam sein. Der Aufwand für den täglichen Betrieb der Software darf nicht vernachlässigt werden. Gelegentlich ist es sinnvoll, Anpassungen vorzunehmen, um den Prozess hinterher leichter abbilden zu können. Nicht wettbewerbsrelevante Funktionen sollten stets sehr nahe am Standard bleiben. Insbesondere vor Anpassungen, die angeblich dem Controlling dienen sollen, ist zu warnen. Spezielle Kalkulationsschemata oder Excel-Sheets, die exakt wie zuvor abzubilden sind, erzeugen jahrzehntelangen Zusatzaufwand – nur damit sich eine mittlere Führungskraft nicht umstellen muss?
Wer sollte diese Anpassungen prüfen? Die eigenen Mitarbeiter kennen das neue ERP-System nicht und ERP-Anbieter programmieren immer alles, was der Kunde will. Daher ist es immer eine gute Idee, Anpassungskonzepte von einem neutralen Dritten überprüfen zu lassen, der sowohl auf mögliche Prozessveränderungen als auch auf die Nutzung von Funktionen im Standard-ERP hinweisen kann.