Achtung, ERP-Hürde! –
Wie Agilität bei der ERP-Implementierung unterstützt
Lesedauer: 10 Minuten

ERP-Systeme sind nicht nur in Konzernen notwendig. Auch KMU benötigen ein zentrales System für das gesamte Unternehmen. Doch der Auswahlprozess wirkt auf KMU oft wie eine unendlich große Hürde. In der Folge werden die Workflows wieder mithilfe von Excel und Word abgebildet. Dabei kann eine agile Vorgehensweise die Transparenz und Einführungsgeschwindigkeit eines ERP-Systems erhöhen.
Von der Auswahl zur konkreten Lösung
In nahezu allen Bereichen arbeiten wir heute digital zusammen. Dabei gab es die ersten Netzwerk-Utopien und IT-Systeme bereits in den 80er-Jahren. Zunehmend steht die Software im Mittelpunkt, die sich aus den Aufforderungen aus Organisation, der Ökonomie und den rechtlichen Rahmenbedingungen ableitet [1]. Die Auswahl der passenden Software ist somit für das jeweilige Unternehmen entscheidend, da mitunter der Unternehmenserfolg von der Qualität der Software abhängig ist.
ERP-Systeme haben heute nicht mehr nur die Aufgabe, die Unternehmenskommunikation zwischen den unterschiedlichen Fachbereichen sicherzustellen. Vielmehr sind sie geprägt durch die digitale Unterstützung von Unternehmensprozessen und anwendungsspezifischen Workflows. „Idealerweise sind in einem integrierten [ERP-]System alle oder zumindest die wesentlichen IT-Komponenten […] sinnvoll miteinander verknüpft, dass die relevanten Daten möglichst automatisiert, in Echtzeit, einmalig, nachvollziehbar und medienbruchfrei zur weiteren Verwendung und Verfügung stehen“ [2]. Das können beispielsweise Daten aus dem Vertrieb, von Produktions- und Warenwirtschaftssystemen, oder auch aus dem Supply-Chain-Umfeld sein.
Um nun das passende ERP-System auszuwählen, bedarf es vorher einer Erarbeitung der relevanten Anforderungen. Diese Analyse bildet die Grundlage der folgenden IT-Unterstützung. Bei der Anforderungsanalyse werden alle Fachabteilungen eines Unternehmens eingebunden. Ziel ist es, die Anforderungskriterien kritisch zu hinterfragen und zu bewerten. Dieser initiale Schritt bildet die Grundlage für den folgenden Auswahlprozess. Im Zuge der Softwarebeschaffung sind kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) oftmals aufgrund mangelnden Wissens und unzureichender technischer Möglichkeiten an fertige Software gebunden, sodass standardisierte Verfahren zur Softwareauswahl benötigt werden, damit Potenziale und Risiken innerhalb des Aus- wahlprozesses erkannt bzw. vermieden werden können [3]. Der Auswahlprozess wird dabei zunächst in 5 einfache Schritte untergliedert (Bild 1).

Das A und O im Auswahlprozess: Vergleichbare Kriterien
Absolut grundlegend für einen transparenten ERP-Auswahlprozess sind über die Anbieter hinweg vergleichbare Kriterien, nach denen sie beurteilt werden können. Diese Kriterien sollten spätestens nach der Identifikation relevanter Anbieter (Schritt 1) definiert werden und in sinnvolle Cluster eingeordnet werden. Denkbar sind dabei:
- Anbieterleistungen: Leistungen der Zusammenarbeit wie beispielsweise Leistungen des Anbieters am Markt, kultureller und regionaler/globaler Hintergrund, Kommunikationsverhalten oder auch Qualität der Zusammenarbeit
- Technische Anforderungen: Standards für eine einheitliche Datenbereitstellung im System wie beispielsweise User Interface/User Journey, Anbindungsmöglichkeiten und Schnittstellen, Skalierbarkeit, Verfügbarkeit und Service-Level-Agreements (SLAs), Umsetzung der DSGVO
- Funktionale Anforderungen: die individuellen Anforderungen wie beispielsweise Finanzbuchhaltung, Abbildung von Beschaffungsvorgängen, Projekt- und Produktionssteuerung, HR-Aktivitäten
Bei der Definition der Auswahlkriterien sollten alle Stakeholder entsprechend eingebunden werden. Vor allem die fachlichen und funktionalen Anforderungen sind von den Fachabteilungen zu benennen. Die Anforderungen werden im Rahmen eines iterativen Prozesses analysiert und dokumentiert. Das Kernteam und die Stakeholder sollten die Möglichkeit haben, die Anforderungen bei Bedarf zu vervollständigen, um aktuelle oder veränderte Wünsche zu berücksichtigen.
Da gegebenenfalls sehr viele Anforderungen definiert werden, ist durch ein Kernteam aus Vertretern aller Stakeholdergruppen abzuwägen, welche Kriterien eher erfüllt werden müssen als andere. Dies kann wie folgt geschehen:
- Prozentuale Gewichtung der Anforderungscluster (siehe Bild 2)
- 4-stufige Skala in Bezug auf die Einzelkriterien, wie beispielsweise „Nicht erforderlich“, „Nice-to-have“, „Must-have“ und „Knock-out“
- Andere individuelle Gewichtungen
Anforderungen der Stufe „Nicht erforderlich“ sind nicht weiter zu verfolgen und entfallen. Anforderungen, die „Nice-to-have“ sind, können für ein Minimum Viable Product (MVP) zunächst entfallen, werden aber dennoch im weiteren Implementierungsverlauf berücksichtigt. Im Gegensatz dazu müssen Anforderungen der Stufe „Must-have“ dringend mit einer hohen Priorität bereits im MVP umgesetzt werden. Den Abschluss bilden „Knock-out“- Anforderungen. Werden diese nicht erfüllt, muss nach einem alternativen Softwareanbieter gesucht werden. Diese Funktionalitäten sind für das Unternehmen beispielsweise aus fachlicher oder wirtschaftlicher Sicht essenziell. Der finale Kriterienkatalog ist abschließend von allen beteiligten Fachbereichen sowie Stakeholdern zu genehmigen.
Die Entscheidung zur Implementierung
Die Kosten für eine standardisierte ERP-Lösung „sind in der Regel besser kalkulierbar – eine bestimmte Anzahl an Lizenzen für eine bestimmte Anzahl von Nutzern wird gekauft oder gemietet; Zusatzkosten können durch Customizing oder technischen Support anfallen. Im Gegensatz dazu ist für eine Individualentwicklung in der Regel eine vergleichsweise höhere Anfangs-Investition für die Entwicklung bis zur eigentlichen Einsatzreife zu tätigen“ [4]. Aus diesem Grund ist es für KMU oftmals sinnvoller, ein standardisiertes System zu nutzen.

Doch auch wenn die Entscheidung auf einen ERP-Anbieter gefallen ist, muss das System noch implementiert werden. Dabei sichert eine agile Vorgehensweise den Projekterfolg. Aus diesem Hintergrund wurden vier Leitsätze im Agilen Manifest formuliert:
„Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen. Durch diese Tätigkeit haben wir diese Werte zu schätzen gelernt:
– Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge.
– Funktionierende Software ist wichtiger als umfassende Dokumentationen.
– Zusammenarbeit mit dem Kunden ist wichtiger als Vertragsverhandlungen.
– Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans.Das heißt, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite wichtig finden, schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein“ [5].
Somit ist der Anfang mit einem MVP sinnvoll, um das System zu testen und schnell zu starten. Mit einem MVP- Ansatz werden zunächst die wichtigsten Basisfunktionen für die definierten Kernprozesse umgesetzt. Dabei sollten in jedem Schritt Ziele zu den einzelnen Meilensteinen
definiert werden (Bild 3). Leitsätze begleiten den Kern der Aktivitäten, um den Fokus des MVP nicht zu verlieren. Zu jedem Meilenstein werden Ausgangslage, Ziel, Abgrenzung sowie die einzelnen Arbeitspakete und deren Erfüllungskriterien definiert. Dies kann am Beispiel des ersten Meilensteins in Bild 3 wie folgt geschehen:
Ausgangslage
Aktuell wird die Buchhaltung eines mittelständischen Unternehmens im Bereich Glasfaserausbau auf einem ERP-System durchgeführt, das es abzulösen gilt. Der Buchhaltungsprozess umfasst eine große Anzahl an manuellen Tätigkeiten (Ablauf der Rechnungserfassung, Freigabe, Zahlung und Verbuchung) unterschiedlicher Stakeholder.
Anforderung
Ziellösung: Das Unternehmen möchte eine eigene, revisionssichere Finanzbuchhaltung auf Basis eines ERP-Systems aufbauen, damit zukünftig die Buchungs- und Freigabeprozesse vereinfacht werden und ein selbstständiges Arbeiten des Unternehmens möglich ist.
Abgrenzung: Das MVP umfasst keine Schnittstellen zu anderen Systemen. D. h., es ist zum Beispiel kein automatisches Übertragen von rechnungsrelevanten Daten aus CRM- und ERP-System vorgesehen. Dies muss bis zu einer späteren Integration händisch erfolgen.
Die folgenden Arbeitspakete müssen beispielsweise in das System integriert werden:
- Debitorenbuchhaltung
- Kreditorenbuchhaltung
- Revisionssicherheit gegenüber Finanzbehörden
- Buchungen, Verbuchung/Integration von Banksystemen
- Vertragsmanagement für kreditorische und debitorische Verträge

Erfüllungskriterien
- Die revisionssichere Basisbuchhaltung und die Auslösung von Zahlungsflüssen sind möglich.
- Rechnungserfassung, Freigabe, Zahlung und Verbuchung können durch das Unternehmen selbstständig durchgeführt werden.
- Kreditorische und debitorische Verträge können im ERP-System an- und abgelegt werden.
Vorteile der Agilität bei der ERP-Auswahl und -Implementierung
„Untersuchungen zeigen, dass agile Unternehmen eine 70-prozentige Chance haben, im obersten Viertel der organisatorischen Gesundheit zu liegen, dem besten Indikator für langfristige Leistung. Darüber hinaus er- reichen solche Unternehmen gleichzeitig eine größere Kundenorientierung, kürzere Markteinführungszeiten, höheres Umsatzwachstum, niedrigere Kosten und eine engagiertere Belegschaft“ [6]. Vor allem bei der ERP-Implementierung bringt eine Auswahl und Implementierung nach agiler Vorgehensweise drei entscheidende Vorteile mit sich.
Erhöhte Geschwindigkeit
Ein agiler Ansatz bei der ERP-Auswahl und der anschließenden Implementierung hilft Unternehmen, die gewünschten Ergebnisse schneller zu erreichen, indem nicht alle Prozesse im Detail ausgearbeitet werden, sondern mit den wichtigsten Kernbereichen begonnen und dann der Reifegrad stetig erhöht wird. Konkret bedeutet dies, dass in einem Projekt auch die Kostenschätzung und die Verträge nach dem agilen Ansatz ausgerichtet werden können. Dies führt zu kürzeren Budgetfreigabezyklen. Der MVP-Ansatz hilft, zu Beginn der Verhandlungen mit einem potenziellen Implementierungspartner schnell ein gemeinsames Verständnis zu erreichen, da der Umfang und die Komplexität mithilfe des MVP reduziert werden können. Wenn das Unternehmen und der Implementierungspartner bereits agil arbeiten, wie beispielsweise nach dem Scaled Agile Framework (SAFe), dann beschleunigt dies auch den Projektstart des MVP und weitere Iterationen der ERP-Implementierung.
Erhöhte Benutzerakzeptanz
Der agile Ansatz basiert auf regelmäßigen Iterationen, gefolgt von Release-Zyklen. Mit diesem Ansatz können die Anforderungen wiederholt mit den Anwendern validiert werden. Dies führt zu einer höheren Akzeptanz der Lösung durch die Endanwender, da sie während des gesamten Auswahl- und Implementierungsprozesses einbezogen werden. Die frühe Einbindung der Benutzer in den Auswahl- und Implementierungsprozess bringt einen weiteren Vorteil mit sich. Das Risiko von Mängeln im Design wird drastisch reduziert. Um den Fokus während des Projekts beizubehalten und eine einheitliche Perspektive zu entwickeln, ist es eine bewährte Praxis, die Diskussion auf die User Journey zu konzen- trieren.
Erhöhte Flexibilität
Der Vorteil des agilen Ansatzes wird besonders deutlich, wenn es sich um ein Start-up-Unternehmen handelt, das ein ERP-System auswählt und einführt. Erfahrungen aus Projekten bestätigen, dass es sinnvoll sein kann, ein Unternehmen nach der Lean-Start-up-Methode aufzubauen. Im Gegensatz zum Wasserfallmodell erlaubt der agile Ansatz, die Geschäfts- und IT-Architektur bei der ERP-Auswahl und -Einführung genau aufeinander abzustimmen. Dies ermöglicht es dem Unternehmen, die erforderlichen Prozesse vor jeder Sprintplanung detaillierter auszuarbeiten und Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen gemeinsam zu treffen.
Fazit
Bei der Auswahl von ERP-Systemen ist nicht nur eine strukturierte Vorgehensweise notwendig. Entscheidend sind vor allem transparente Auswahlkriterien innerhalb des Auswahlprozesses und eine agile Vorgehensweise während der Implementierung eines MVP. Neben einer hohen Flexibilität und der Implementierungsgeschwindigkeit werden somit vor allem die Benutzer des Systems auf dieser Transformationsreise mitgenommen. Dieser Effekt darf niemals unterschätzt werden, da die meisten Implementierungsprojekte nicht an der Technologie scheitern, sondern an der Akzeptanz der Mitarbeiter innerhalb eines Unternehmens.
Autoren

die Themen Einkauf 4.0, IOT und Digitalisierung
und verantwortet als Manager das Themengebiet
digitale Supply Chain bei der mm1 – die Beratung
für Connected Business. In der Vergangenheit
forschte sie unter anderem im Bereich Wissens-
und Risikomanagement auf Basis von Big Data.

Beratung für Connected Business. Er beschäftigt
sich unter anderem mit dem Einsatz von
agilen Ansätzen bei der Umsetzung
komplexer IT-Architekturen.
Kontakt
Dr.-Ing. Anja Wilde
mm1 Consulting & Management PartG Im Morgenrain 19, 73773 Aichwald
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